Titel
Kleine Geschichte Kaliforniens.


Autor(en)
Bierling, Stephan G.
Erschienen
München 2006: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
244 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Hochgeschwender, Amerika-Institut, LMU München

Bedauerlicherweise fehlen auf dem deutschen Büchermarkt weithin solide Einzeldarstellungen, die sich den Komplexitäten, dem Facettenreichtum und den inneren Widersprüchen der amerikanischen Geschichte aus einer regionalgeschichtlichen Perspektive nähern. Diesem Manko begegnet der Regensburger Politologe Stefan Bierling nun mit einer flüssig geschriebenen, konzisen und überaus soliden Darstellung der Geschichte eines Einzelstaates der amerikanischen Union, nämlich Kaliforniens. Gewiss, die Kleine Geschichte Kaliforniens bringt wenig, dass nicht schon zuvor aus der amerikanische Historiografie bekannt gewesen wäre. Insbesondere der monumentalen, siebenbändigen Gesamtdarstellung der Geschichte Kaliforniens aus der Feder Kevin Starrs weiß Bierling sich verpflichtet. Dies gibt er aber auch ganz offen zu. Sein Verdienst besteht demgegenüber darin, sich mit großer Sympathie, aber keineswegs kritiklos, dem Spezifischen der Entwicklung in Kalifornien angenommen zu haben, ohne es voreilig in eine gesamtamerikanische Geschichte einfließen zu lassen. Gerade auf diese Weise kann er die Beiträge dieses wichtigen Einzelstaates für die nationale Identität der Vereinigten Staaten umso präziser herausarbeiten, wenn er etwa auf die Besonderheiten des kalifornischen Kapitalismus im Rahmen des Goldrausches nach 1848 aufmerksam macht, die erheblich von dem Muster abwichen, das die Puritaner und erweckten Evangelikalen an der Ostküste vorgegeben hatten.

Zu den großen Verdiensten dieser Studie zählt der Versuch, politische, gesellschaftliche, kulturelle und sogar ökologische Prozesse in ein Narrativ zu integrieren. Vermutlich ist es Bierlings eigener Profession geschuldet, dass dabei die politikgeschichtlichen Partien deutlich überwiegen, während die klassische Sozialgeschichte erkennbar im Hintergrund bleibt. Auch wirkt die Kombination der gewählten Themenbereiche mitunter etwas additiv, zumal die Erzählung selbst an der Politikgeschichte ausgerichtet bleibt, während die anderen Bereiche oftmals nur in separaten Unterkapiteln eingearbeitet werden. Dennoch vermag der gewählte Ansatz aufs Ganze gesehen zu überzeugen, da er – dem Anliegen des Bändchens gemäß – auf diese Weise ein knappes, aber umfassende Bild kalifornischer Geschichte zu zeichnen vermag.

Bereits zu Beginn verweist Bierling auf den ambivalenten Charakter des historischen Geschehens in Kalifornien. Auf der einen Seite stand und steht der Aspekt der Verheißung und der Chance, der sich nicht zuletzt in den vom Autor breit geschilderten geografischen Voraussetzungen, in der Weite und Schönheit einer ganz eigenartigen, von zahllosen Extremen geprägten Landschaft niederschlägt. Immer wieder kamen Menschen hierher, die einen Neuanfang suchten und deren Hoffnungen und Erwartungen die Mentalität der Kalifornier maßgeblich beeinflussten. Auf der anderen Seite finden sich erhebliche Schattenseiten, von der nie nachlassenden Gefahr verheerender Erdbeben bis hin zu einer selbst für amerikanische Verhältnisse ungewöhnlichen Gewalttätigkeit gerade gegenüber den Indianern und ethnischen Minderheiten wie Chinesen, Japanern und Mexikanern. Diese Dualität der Extreme gibt dem kleinen Band seine erzählerische Stringenz.

Im Anschluss an die topografischen und tektonischen Voraussetzungen kommt Bierling dann etwas arg knapp auf die indianischen Ureinwohner des Landes zu sprechen. Ganz ähnlich wie in den Museen der Smithsonian Institution werden sie leider als Bestandteil der Naturgeschichte geschildert, ganz so, als hätten sie keine eigene Geschichte. Dabei erwähnt Bierling vollkommen zu Recht, wie divers die indianischen Kulturen gerade in Kalifornien waren. In keinem anderen Gebiet Nordamerikas existierten dermaßen viele Sprachfamilien auf so kleinem Raum nebeneinander. Dies führte einerseits zu einer Reihe heftiger innerindianischer Konflikte, aber auch zu vielfältigen Kooperationsformen und interessanten Experimenten kultureller Symbiose.

Den eigentlichen Schwerpunkt der Studie aber macht die Abfolge unterschiedlicher Eroberungen und Einwanderungen durch die Spanier, Mexikaner und US-Amerikaner europäischer und asiatischer Abstammung aus. Bierling räumt den Epochen von der Kolonialzeit bis zur Progressiven Ära dankenswerterweise einen breiten Raum ein, obwohl sein Fokus insgesamt eher auf dem 20. Jahrhundert liegt. So kommt die spanische Kolonialzeit recht breit in den Blick. Hier schließt sich Bierling der neueren Tendenz der US-amerikanischen Forschung an, beispielsweise die Folgen der Franziskanermission des 18. Jahrhunderts eher kritisch einzuschätzen. Gerade mit Blick auf die hohen indianischen Opferzahlen nach der „Befreiung“ der Indianer im Gefolge der mexikanischen Revolution sowie der genozidalen Aktivitäten US-amerikanischer Siedler nach 1848 könnte man hier indes durchaus anderer Ansicht sein.

Mit dem gewaltsamen Anschluss Kaliforniens an die USA im Zuge des Krieges gegen Mexiko von 1846 und dem anschließenden Goldfieber beginnt der analytisch gehaltvollste Teil des Buches. Hier verbindet Bierling kluge Beobachtungen zur kalifornischen Kultur mit gehaltvollen Analysen der jeweiligen politischen Konstellationen. Insbesondere gelingen ihm schöne Zeichnungen führender Politiker des Staates, beginnend mit dem umtriebigen John Frémont über Hiram Johnson, Earl Warren, die beiden Browns bis hin zu Ronald Reagan und Arnold Schwarzenegger. Aber er beschränkt sich nicht auf Personen, sondern bettet sie jeweils in den Kontext ihrer Zeit ein, so zum Beispiel den Progressivisten Johnson in das Netz von Korruption und Gewalt, das die monopolkapitalistischen Eisenbahnbosse der Southern Pacific über den gesamten Staat gelegt hatten. Vor allem zeigt Bierling auch, dass die von den Progressivisten 1911 als Heilmittel gegen die allgegenwärtige Korruption gedachten basisdemokratischen Reformen des kalifornischen politischen Systems bis heute in zum Teil erheblichem Maße kontraproduktiv wirken, da sie immer wieder populistischen Stimmungen und einem umfangreichen Lobbyunwesen Tür und Tor geöffnet haben. Auch die berüchtigte Internierung der japanischen Bevölkerung des amerikanischen Westens während des Zweiten Weltkriegs ließ sich auf mangelnde Schranken gegenüber populistischer Kriegshysterie zurückführen. Das Internment war nachgerade ein klassisches Beispiel für die oben erwähnten Ambivalenzen Kaliforniens, da hier ein basisdemokratischer, freiheitsorientierter Progressivismus und ein zynisch-menschenverachtendes politisches Kalkül bis hinein in die demokratische Roosevelt-Administration ein höchst problematisches Bündnis eingingen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass man sich darüber streiten kann, ob man andere Schwerpunkte hätte wählen können. Warum wurde der Black Dahlia Murder Case um Elisabeth Short erwähnt, nicht aber der Mord an Sharon Tate durch die Manson-Familie? Warum kommen die religiösen Sekten und Kulte, die für Kalifornien so typisch sind, nur randständig vor? Warum fand der urban sprawl der San Francisco-San Diego-Region (San-San) mitsamt den daraus resultierenden erheblichen ökologischen Problemen keine Erwähnung? Das grenzt freilich an Beckmesserei. Eine kleine Geschichte Kaliforniens muss notgedrungen aus der Fülle des vorhandenen Stoffes auswählen und eigene, persönliche Schwerpunkte setzen. Genau dies hat Bierling konsequent getan, ohne darüber die Vielfalt Kaliforniens aus dem Auge zu verlieren.

Insgesamt schließt dieses empfehlenswerte Buch eher mit einer Frage als mit einer Antwort: Ist der kalifornische Traum am Ende? Bierling vermeidet eine klare Antwort, hat dem Leser aber hinreichend Material an die Hand gegeben, um diese Frage für sich selbst zu beantworten.

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